Buchvorstellung: Die Glocken von Rungholt

06:00

"Die Glocken von Rungholt", ist der erster historischer Roman von Anna-Kathrin Wasle. Er ist diese Woche exklusiv bei Thalia herausgekommen.


Kurzbeschreibung:
Sie liebten das Meer – doch es brachte den Tod … 1362 versank die Stadt Rungholt im Meer und wurde zur Legende. Jahrhunderte später kann sich auch Janna dem Sog der alten Sagen nicht entziehen. Als sie das Tagebuch von Lenore findet, verliert sie sich zusehends in der Geschichte der jungen Frau und der dem Untergang geweihten Stadt – bis sie Realität und Einbildung, Lenores und ihr eigenes Leben kaum noch unterscheiden kann … Zwei Frauen – zwei Jahrhunderte – zwei Leben: Ein Roman über eine schicksalhafte Begegnung und eine Seelenverwandtschaft über den Tod hinaus.

Leseprobe:
Kapitel 1  
Janna war sich sicher, dass keine der alten Legenden der Wahrheit entsprach. Der Grund, weshalb sie hier herauskam und sich Kälte und Nacht entgegenstellte, lag nicht in irgendeinem alten Aberglauben, nicht in der Hoffnung darauf, dass sich eine der Prophezeiungen erfüllen möge, von denen ihr Bruder ihr früher erzählt hatte, dass das Wilde Heer über den Himmel reiten oder die Glocken einer versunkenen Stadt erneut erklingen würden. Wenn Janna überhaupt wusste, warum sie an diesem Abend hinaus ans Meer gekommen war, so war sie nicht bereit, den Grund auch nur sich selbst gegenüber einzugestehen. Es war die Silvesternacht des Jahres 1884, die Nacht, von der man sagte, dass die Wilde Jagd, angeführt von Odin selbst, mit den Seelen der zu früh Verstorbenen und der verschollenen Liebsten nach Einbruch der Dunkelheit über den Himmel preschen sollte. Der volle Mond stand hinter Janna über dem Land und ließ ihren Schatten in Richtung Westen fallen. Alles, was sie tun musste, war, dem dunklen Umriss durch die Dünen und über den Strand zu folgen, um die Fluten des offenen Meeres zu erreichen. Eine plötzliche Bö ließ Janna zusammenfahren. Sie wickelte den Mantel fester um ihre Schultern. Hier, direkt hinter der bewaldeten Deichlinie, musste sich der Wind noch anstrengen, um sie zu erreichen, doch je weiter sie hinausging, desto stärker würden Sturm und Elemente gegen ihr Eindringen ankämpfen. Janna atmete tief ein, dann löste sie sich aus dem Schutz des hohen Walles und ging voraus, gerade auf die dunkle Flut zu, die in weniger als einem Kilometer Abstand den gesamten Horizont beherrschte. Wie erwartet begann der kalte Wind schon nach wenigen Schritten mit aller Macht an ihr zu reißen, doch Janna kniff die Lippen zusammen und klammerte die Finger fester in den Wollstoff ihres Mantels. Es war der Nordwestwind, ein eisiger Luftstrom, wie es sich für Ende Dezember gehörte, der es sich in den Kopf gesetzt zu haben schien, Janna von ihrem Ziel abzuhalten. Durch ihre festen Winterstiefel mit den dicken Sohlen hindurch konnte sie spüren, dass der Sandboden fest gefroren war. Sie fröstelte: Dies war einer jener Winter, die Tiere und Menschen gleichermaßen vor der Macht der Elemente erbeben ließen. Janna hatte die Dünen hinter sich gelassen, und vor ihr öffnete sich nun der Blick auf den vom Mond beleuchteten Strand, der sich in beide Richtungen endlos weit erstreckte. Einige Strandkörbe zeugten davon, dass im Sommer tatsächlich Urlauber hierherkamen, um sich des Klimas zu erfreuen, doch nun, bei Nacht und Kälte, konnten die verlassenen Körbe den ungastlichen Eindruck nur noch weiter unterstreichen. Und kurz dahinter, noch einige hundert Meter von ihr entfernt, begann das Meer. Die Strandfläche, auf der sie weit und breit nichts vor dem Wind schützen konnte, hatte etwas unendlich Feindseliges. Der Gedanke an die eisigen Fluten ließ Janna unwillkürlich zusammenfahren, so als wäre sie selbst gezwungen, sich der Gnade der See anzuvertrauen, und für eine kurze Zeit überlegte sie, ob es sich überhaupt lohnte, weiter hinauszugehen. Es gab nichts dort draußen, das auf sie wartete, nichts, das die Mühe lohnen würde. Sie wandte den Blick zum Himmel: Der Vollmond, der sich hinter vorbeiziehenden Wolken zu verbergen suchte, stand mittlerweile beinahe senkrecht über ihr. Bald würde die Mitte der Nacht erreicht sein und mit ihr der Beginn eines neuen Jahres. Janna fröstelte. Es hieß, dass in der Silvesternacht die Seelen der Verstorbenen zurückkehren durften, um ihren Liebsten ein letztes Zeichen zu senden. 
Mit einem Schaudern zog sie die Luft ein und machte sich weiter auf den Weg, über den gefrorenen Strand hinweg dem düsteren Meer entgegen.  
Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren. Noch schlagen die Wellen da wild und empört wie damals, als sie die Marschen zerstört.  
Jannas Lippen fühlten sich taub an, während sie beinahe lautlos die Zeilen der Ballade vor sich hin murmelte. Die Legende der großen mittelalterlichen Handelsstadt, die in einer einzigen Nacht durch die rasende Nordsee ausgelöscht worden war – es gab wohl niemanden, der hier an der Küste aufgewachsen war und die Geschichte von Rungholt nicht mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Doch in einer Nacht wie dieser schien aus dem alten Aberglauben mit einem Mal mehr zu werden. Es war nicht schwer, sich vorzustellen, dass die Glocken Rungholts noch heute durch die Wellen herauf erklingen mochten.  
Die Maschine des Dampfers schütterte, stöhnte, aus den Wassern rief es unheimlich und höhnte: Trutz, Blanke Hans.  
Janna hatte die Hälfte des Weges hinter sich gebracht, als die Schmerzen in ihren Händen so stark wurden, dass sie sie nicht weiter ignorieren konnte. Wütend schüttelte sie den Kopf. Sie hatte sich so darauf konzentriert, den Mantel mit aller Gewalt um sich zu krallen, dass sie die Gefahr für ihre Finger vollkommen übersehen hatte. Hastig beeilte sie sich, die Hände in schnellem Rhythmus zu 
ballen und wieder zu öffnen, und tatsächlich kehrte das Gefühl nach wenigen Minuten allmählich in die steifen Glieder zurück. Zitternd ging Janna weiter, doch als würde sich der Zorn der Elemente jetzt erst ganz offenbaren, traten die Beschwerlichkeiten mit einem Mal voll zutage: die Kälte im Gesicht, die ihre Nase beinahe gefühllos werden ließ, die Schuhe, die auf dem ungewohnten Boden bei jedem Schritt drückten, und die Haare, die sich aus ihrer Kapuze gelöst hatten und nun in feuchten Strähnen vor ihrem Gesicht wehten. Ungeduldig zog sie die Hand aus dem schützenden Mantel und versuchte, eine dicke rote Haarlocke wieder an ihren Platz zu stecken, doch der Wind war zu stark, und wenige Sekunden später hatten sich die Haare wieder befreit. Janna überlegte, ob es die Mühe lohnte, die Kapuze abzuziehen und ihren Zopf neu zu flechten, doch sie entschied sich dagegen. Solange alles wenigstens einigermaßen an seinem Platz steckte, musste sie dankbar sein. Wer wusste, ob sie mit ihren gefrorenen Händen die ungebändigten Locken überhaupt wieder zusammenbinden könnte. Das Meer war jetzt nur noch wenige Schritte entfernt, und mit erschöpfter Miene sah Janna erneut hinauf zum Mond. Die Wolkendecke war aufgerissen, und für den Moment stand die große Scheibe unbedeckt hoch oben am Himmel. Der blaue Schimmer des Vollmonds war nun klar zu erkennen, doch Janna war die ungewöhnliche Farbe seit langem gewöhnt. Sie lächelte still. Wer hätte noch vor ein paar Jahren gedacht, dass der gewöhnliche, weiße Mondschein einmal eine ersehnte Seltenheit darstellen würde, von der niemand mit Sicherheit sagen konnte, ob diese Erde sie je wieder erleben würde? Janna blickte wieder auf die schäumenden Wellen, die unter dem blauen Licht nur umso drohender auf das Ufer schlugen.  
Doch einmal in jedem Jahrhundert entlassen die Kiemen gewaltige Wassermassen. Dann holt das Untier tiefer Atem ein und peitscht die Wellen und schläft wieder ein. Viel tausend Menschen im Nordland ertrinken, viel reiche Länder und Städte versinken. Trutz, Blanke Hans.  
Beklommen überlegte Janna, was die Menschen wohl dazu gebracht hatte, der Nordsee einen so gewöhnlichen Namen zu verleihen. Wir trutzen dir, Blanker Hans, Nordseeteich!, so hieß es in der Ballade – vielleicht lag darin schon die Erklärung. War es für die Seeleute, die ihr Leben Tag für Tag den Launen des Meeres anvertrauten, nicht einfacher, vom Blanken Hans zu sprechen, statt sich die Übermacht der Elemente einzugestehen? Während sie noch einen Schritt weiterging, fühlte Janna, wie das dumpfe Rauschen der Fluten sie mit einem Mal vollkommen zu durchdringen schien. Sie schüttelte den Kopf. Die seelenlose Launenhaftigkeit, mit der die See zuweilen ruhig am Ufer spielte, nur um im nächsten Moment Schiffe und Städte gleichermaßen zu verschlingen, hatte nichts Menschliches an sich. Was auch immer die Männer bewog, sich die wilden Wellen kleinzureden, sie mussten wissen, dass sie sich damit nur selbst betrogen. Weit entfernt erklang das Läuten der Kirchenglocken: Das Jahr des Herrn 1885 war angebrochen. Für einen Moment spürte Janna, wie sie sich versteifte, und unbewusst hielt sie den Atem an. Sie war nun fast an der Linie der Wellen angekommen, die von frostigen Schneekronen bedeckt wenige Meter entfernt am gefrorenen Strand leckten. Selbst der Wind schien nachgelassen zu haben, als ob er auf etwas wartete, das den heiligen Moment unterbrechen würde. 
Nichts geschah. Janna ließ die Luft wieder ausströmen und lachte leise auf. Was hatte sie erwartet? Irgendein übernatürliches Zeichen, das ihr die eisigen Wellen überbringen sollten? Sie dachte daran, dass sie selbst am 24. Juni geboren worden war, daran, was man über die Kinder der Johannisnacht sagte und was das Meer ihnen in manchen Vollmondnächten zeigen mochte. Gerade das war der Grund gewesen, warum heute das erste Mal war, dass sie es auf einen direkten Versuch hatte ankommen lassen: Janna war klar gewesen, wie ernüchternd es sein musste, wenn sich die alte Sage endgültig als frei erfunden herausstellte. Sie blickte nach rechts gen Norden, wo die Küste einen Bogen in die Bucht von Husum machte. Dort vorne, so weit entfernt, dass es auch am Tage im Meer verborgen lag, hatte eine Bäckersfrau aus Nordstrand in der Johannisnacht vor sieben Jahren behauptet, dass Rungholt wieder aufgestiegen sei – gerade lange genug, dass sie die Türme und Zinnen hatte erkennen können. Doch als sie nach den anderen Dorfbewohnern gerufen und Hilfe gesucht hatte, war das geisterhafte Abbild längst wieder im Meer verschwunden. Janna schauderte. Es war ihr Bruder gewesen, der ihr von der seltsamen Erscheinung erzählt hatte. Damals hatte er seiner kleinen Schwester geschworen, dass jedes Wort der Geschichte wahr sei. Er hatte immer viel Unsinn dahergeredet.  
Ein einziger Schrei – die Stadt ist versunken, und Hunderttausende sind ertrunken. Wo gestern noch Lärm und lustiger Tisch, schwamm anderntags der stumme Fisch. Heut bin ich über Rungholt gefahren, die Stadt ging unter vor sechshundert Jahren. Trutz, Blanke Hans? 
Sie seufzte tief auf. Nur einmal alle sieben Jahre war es Rungholt erlaubt, für eine Nacht wieder an die Oberfläche zurückzukehren und seine Schönheit zu zeigen, so jedenfalls wollte es die Sage. Erneut strich Janna sich die widerspenstige Strähne aus der Stirn und zog die Hand eilig wieder unter den Mantel, um sie mit der anderen zu massieren. Es hatte keinen Sinn, nun noch weiter in der eisigen Kälte zu warten. Sie sollte sich umdrehen und heimgehen, und doch blieb Janna weiter unbewegt stehen. Wahrscheinlich lag es an dem wolkenverhangenen Mond, der die Szenerie in ein unwirkliches Licht tauchte, doch Janna konnte den Blick nicht von der offenen See wenden, die sich vor ihr bis hinaus in die Unendlichkeit zu erstrecken schien. Noch immer erklang das Silvesterläuten vom Dorf herüber, das Läuten, das allzu sehr an die Sage der untergegangenen und dennoch hörbaren Glocken von Rungholt erinnerte. Janna schloss die Augen, dann warf sie einen letzten Blick nach rechts, zur Husumer Bucht, dort, wo die versunkene Stadt den Erzählungen zufolge liegen musste. Für einen Moment war sie sicher, dass ihre Augen von der salzigen Seeluft geblendet waren. Sie wollte sie ausreiben, doch mit einem Mal schien es ihr unmöglich, auch nur einen Finger zu bewegen, zu gebannt war sie von dem Anblick, der sich ihr nun darbot. Draußen, vielleicht einen Kilometer vom Ufer entfernt, hob sich über dem Wasser eine scharfe Silhouette ab, die das Licht des Mondes auf seltsame Art zu reflektieren schien. Janna spürte, wie ihr Herz heftiger schlug, während sie den wahren Ursprung der Erscheinung zu erkennen suchte. Natürlich war es nicht wahr, konnte es nicht wahr sein, und doch: Es sah aus, als würden sich direkt vor ihr die Türme einer gläsernen Stadt aus den dunklen Fluten erheben. Ohne sich zu rühren, starrte Janna auf das unwirkliche Bild, das vom bläulichen Mondschein geisterhaft beleuchtet wurde.    
Die hohen Spitzen, die die Wellen teilten, schienen auf phantastische Weise größer zu werden. Oder vielleicht kamen sie auch nur immer näher heran? Es waren spitze, gedrehte Türme, nicht wie die, die Janna von den Schlössern aus Husum und Schleswig kannte, sondern wie auf den Bildern eines alten Märchenbuchs. Im schattenhaften Mondschein war es schwer zu erkennen, doch es sah aus, als wäre das wundersame Bild in ständigem Wandel begriffen: Die Türme schienen höher und breiter zu werden, so als wäre es allein das Licht des Mondes, das die Formen dieser Geisterstadt definierte. Nun hörte Janna über das Geräusch der entfernten Glocken hinweg noch etwas anderes: Es klang wie ein feines Klirren, das weit draußen in der nächtlichen Luft zu schweben schien. Janna spürte ein Brennen auf ihren Wangen, und als sie die klammen Finger zum Gesicht hob, konnte sie fühlen, dass es Tränen waren. Sie riss sich aus ihrer Erstarrung los. Was es auch war, das sie hier miterleben durfte, sie würde nicht stumm dabeistehen und den Augenblick verstreichen lassen. Und noch weniger hatte sie vor, wie die Bäckerin vor einigen Jahren fort in den Schutz des Deichs zu flüchten. Mühsam zwang Janna ihre Glieder dazu, sich zu bewegen, und ging auf die bläuliche Erscheinung zu. Die glitzernden Türme und Zinnen waren noch zweihundert Meter vom Ufer entfernt, doch mittlerweile war klar zu erkennen, dass sie sich dem Strand näherten. Noch wenige Minuten, und ein sterblicher Besucher würde den überirdischen Bau trockenen Fußes betreten können, für die einzige Gelegenheit, die vor Jahrhunderten mit der Stadt versunkenen Seelen zu erretten. Beinahe überrascht spürte Janna, wie jeder Zweifel in ihr dahingeschmolzen war, und sie wusste, dass es alleine an ihr lag, die uralte Weissagung zu erfüllen. Was es auch sei, sie war bereit, alles tun, um diese Stadt zu erlösen. Das Gebilde hatte die Eislinie des Strandes beinahe erreicht, als ein heftiges Knirschen den Boden erbeben ließ. Janna hatte so etwas erst einmal gehört, vor vielen Jahren, als ein Schiff auf dem Watt gestrandet war. Gewaltsam riss sie sich aus ihrer Erregung. Was immer die Natur dieser Geisterstadt war, Janna war sich sicher, dass das versunkene Rungholt über solch banale Geräusche erhaben sein musste. Sie lief am Strand entlang, dorthin, wo die Gestalt der auferstandenen Stadt einen Steinwurf vom Ufer entfernt fest im Boden verankert schien. Noch während Janna lief, riss die Wolkendecke wieder auf, sodass der Mond den gesamten Strand mit voller Macht erleuchtete. Für einen Moment wusste Janna nicht, ob sie bei dem Anblick erleichtert aufseufzen oder in Tränen ausbrechen sollte, doch schließlich tat sie keines von beidem. Natürlich hatte es eine gewöhnliche Erklärung geben müssen, sie hatte ja die ganze Zeit nur darauf gewartet – doch diese Erklärung war dennoch so eindrucksvoll, dass Janna kaum einen Stich der Enttäuschung spürte: Die gläsernen Zinnen, die über die Wellen bis zu ihr getrieben waren, waren die Spitzen eines riesigen Eisberges, der auf dem flachen Untergrund des Wattenmeeres gestrandet war. Die eintreffende Flut musste das gewaltige Eis mit sich gebracht haben aus einem hohen, eisigen Norden, um es nun hier am äußersten Rand der Nordseeküste abzulegen. Nun, da der Mond ganz hinter den Wolken hervorgetreten war, konnte Janna das Bild in allen Einzelheiten vor sich erkennen: die gläsernen Türme und die zerklüfteten Spitzen, die aus dem Eis hervorragten, wie um die größten Triumphe menschlicher Baukunst durch ihr filigranes Aussehen in den Schatten zu stellen. Es war, als hätte sich die gesamte Natur bemüht, etwas durch und durch Einmaliges zu schaffen, nur um es ihr heute Nacht zu präsentieren. Doch gerade, als sie diesen Gedanken vollendet hatte, fiel Jannas Blick auf den Rand des Eisberges, und unwillkürlich zuckte sie zusammen. Hoch oben im Eis, in einer Spalte zwischen zwei steilen Vorsprüngen, war ein dunkler Fleck zu erkennen, der wie ein Schandmal das perfekte Eis durchdrang. Janna kniff die Augen zusammen, um sicherzugehen, dass ihr das Licht des Mondes keinen Streich spielte. Sie ging ein paar Schritte zur Seite, doch es war nicht zu verkennen: Dort oben, mitten in der schönsten gläsernen Vollkommenheit war ein Einschluss im Eis zu sehen. Der Fleck war sicherlich an die zwei Meter lang, und Janna fragte sich, was es wohl sein mochte, das dort vor Jahrhunderten auf einer fernen Insel in die Eisspalte gespült worden war. Was es auch war, es störte die Perfektion des Schauspiels, zum einen durch seine Form, doch vor allem dadurch, dass es die Makellosigkeit des unberührten Eises unterbrach. Janna schüttelte den Kopf und lächelte bitter. Ganz gleich, wie erhaben dieses Erlebnis auch gewesen sein mochte, es war klar, dass es in dieser Realität keine ungetrübte Vollkommenheit hatte geben können.

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